Einleitung

Sind die Kinder heutzutage völlig verzogen oder werden sie von ihren egoistischen Eltern einfach nur schlecht behandelt? Suchen Sie sich Ihre Antwort aus, in der Zeitung oder einer Talk-Show, bei einem Politiker oder einem Taxifahrer. Als ich kürzlich über den Atlantik reisen wollte, sagte mir der Taxifahrer, der mich zum Flughafen Heathrow brachte: "Die heutigen Eltern sind einfach nicht darauf vorbereitet, Kinder zu haben. Sie denken nur an den Geldbeutel und ans Vergnügen - morgens zur Arbeit und abends in die Kneipe; die armen Kinder werden gar nicht mehr erzogen und bleiben völlig sich selbst überlassen ..." Doch auf dem Weg vom New Yorker Kennedy-Flughafen in die Stadt hörte ich genau das Gegenteil: "Die heutigen Kinder wissen gar nicht, wie gut es ihnen geht. Als ich noch ein Junge war, arbeitete ich für das, was ich bekam, und das war nicht viel. Das kann ich Ihnen sagen. Jetzt glauben Kinder aus gutem Hause, deren Eltern schuften, um ihnen alles kaufen zu können, sie könnten machen, was sie wollten ... Lehrer zusammenschlagen, Frauen vergewaltigen, stehlen."
Die heutigen Eltern ... die Kinder heutzutage ... als ich noch ein Junge war ... Der gesellschaftliche Diskurs beruht immer auf Aussagen über vergangene Zeiten und über entlegene Orte, weil so die Gegenwart deutlichere Konturen gewinnt. Die meisten dieser Aussagen sollten allerdings eher anfangen mit "Es war einmal" wie in "Es war ein goldenes Zeitalter der Familie ... das richtige Gleichgewicht zwischen Rechten und Pflichten ... eine allgemeine Übereinkunft über gesellschaftliche Werte, über das, was sich schickt. ..." Gewiß glauben viele Menschen, daß die Dinge heute schlechter stehen als je zuvor. Doch in jeder Generation sind immer viele Menschen dieser Auffassung; und unsere Generation wurde besonders empfänglich für die Einflüsterungen der Massenmedien.
Eine wahre Flut von Botschaften aus den Medien ist Ausdruck einer Gesellschaft - oder bringt sie selbst hervor -, die am hemmungslosen Potential des Schreckens Gefallen findet und zugleich vor sich selbst erschrickt. Scheinbar konkurrieren Dichtung und Wahrheit, Kommentar und Nachrichten miteinander, uns über das Undenkbare denken zu lassen und uns in neue Grenzbereiche vorstoßen zu lassen, die uns in dem Maße herausfordern, wie unsere Toleranz wächst. Vergewaltigung ist zu einem Thema geworden, bei dem jeder mitreden kann. Auf diese Weise sind wir jetzt mit Vergewaltigungen durch einzelne Männer konfrontiert, mit Massenvergewaltigungen und Kindervergewaltigungen. Jeder muß sich demnach mit Gedanken vertraut machen, daß viele Kinder in "ganz normalen Familien" mißbraucht werden; doch rufen Kindesmißbrauch durch Bischöfe und Priester, durch Satansanhänger und Pornoringe, ja selbst in Einrichtungen zur Betreuung "gefährdeter" Kinder immer noch tiefe Erschütterung hervor. Und wenn wir meinen, bei Kindern als Opfer mit dem Äußersten an Schrecken konfrontiert zu sein, so wird er doch noch schrecklicher, wenn Kinder zu Aggressoren werden; es geht sogar noch weiter, wenn deren Opfer selbst wieder Kinder sind. Die Vergewaltigung durch einen Zwölfjährigen kommt ganz sicher in die Schlagzeilen; vor kurzem erlangte der gewaltsame Tod eines Zweijährigen in Großbritannien, angeblich durch zwei Zehnjährige, mehr Publizität als all die zusammengenommen mehr als 100 Kinder und Jugendliche, die im selben Jahr von Erwachsenen ermordet wurden. Man zeigt uns Kinder und junge Leute aus jedem beliebigen Elternhaus - Kinder von Leuten wie du und ich -, die nicht nur in der Schule versagen, sondern diese auch noch mit Terror überziehen; sie spotten nicht einfach nur über die Lehrer, sondern greifen sie körperlich an und verletzen sie; sie machen nicht nur einfach Unfug, sondern geraten völlig außer Kontrolle, stehlen ein Auto und fahren damit fort, sie brechen ein und richten Zerstörungen an.
Dies sind reale Bilder realer Ereignisse, doch trotzdem verzerren sie möglicherweise die Realität, so wie ein Tele-Objektiv den Blick auf eine Landschaft: Sie heben ausgewählte Details und Kontraste hervor, sie lenken unsere Aufmerksamkeit vom Drumherum ab, das zwar nicht so dramatisch ist, mit dem wir uns jedoch mindestens genauso intensiv beschäftigen sollten. Es ist ebenjenes Drumherum des normalen, alltäglichen Lebens und die damit verbundenen Erfahrungen, die dieses Buch unter dem weitest möglichen Blickwinkel erkundet.
Mit eigener Blickwinkel ist keineswegs immer so weit gewesen. Ich habe mich in meiner zehnjährigen Forschungstätigkeit die meiste Zeit über mit der Kindesentwicklung beschäftigt und einen Großteil weiterer zehn Jahre damit verbracht, die Ergebnisse an Eltern weiterzugeben und sie auch selbst anzuwenden, als ich unsere eigenen beiden Kinder großzog. Ich glaubte, daß "gute Elternschaft" - jene Art von Erziehung, die sowohl den Bedürfnissen der Kinder als auch denen der Eltern entspricht - nichts ist, was akademisch verallgemeinert werden kann. Ich war vielmehr der Auffassung, es sei etwas, das immer weiterentwickelt werden muß aus sich ständig wandelnden Interaktion zwischen den heranwachsenden Kindern und den Erwachsenen, die selbstbewußt genug sind, um auf sie zu reagieren. Ich glaubte, je mehr Menschen etwas über Kinder im allgemeinen wüßten, desto mehr würden sie sich vor allem für ihre eigene Kinder begeistern - und ich war der Meinung, eine solche Begeisterung für ein Kind sei kein Ersatz für Liebe, könnte aber um 4 Uhr morgens gleichwohl ausgesprochen hilfreich sein, wenn sich ansonsten niemanden findet, der einem Liebe entgegenbringt.
Ich glaube immer noch an all das, aber in den letzten zehn Jahren war ich gezwungen, meinen Horizont zu erweitern. Ich weiß, daß die meisten Eltern als Einzelpersonen ihr möglichstes tun, um dafür zu sorgen, daß ihre Babys gesund und glücklich sind, daß sie wachsen und sich gut entwickeln; sie bemühen sich, dem Bildungssystem wohlerzogene und umgängliche Kinder zu übergeben und diesen in der Schulzeit wie auch später beim Eintritt ins Erwachsenenleben zu helfen. Doch all das, was die Eltern tun können, reicht eindeutig nicht aus. Worin auch immer das reale Ausmaß und die Vielfalt der Greuel, die an oder von den Kindern verübt werden, bestehen mag, es gibt nicht nur Hunderte oder Tausende, sondern weitere Millionen, die gerade in diesem Augenblick von der westlichen Gesellschaft im Stich gelassen werden und diese ihrerseits im Stich lassen. Wir überlassen Eltern die Verantwortung für das Wohl und das Glück ihrer Kinder. Doch befähigen wir sie auch dazu, ihre Aufgabe gut zu erfüllen?
Dieses Buch belegt, daß unsere Gesellschaft kinderfeindlich ist und deshalb die Rolle der Eltern so weit abgewertet hat, daß gute Elternschaft allein nicht nur eine ausgesprochen schwierige Aufgabe darstellt, sondern letztlich auch nicht mehr ausreicht. Informationen über die Kindesentwicklung in der Öffentlichkeit zu verbreiten, bleibt weiterhin für einzelne Personen nützlich. Doch weder vermag die Erziehung allein Kindern eine bessere Zukunft zu ermöglichen, noch reichen gewalttätige Eltern als Erklärung für ihre derzeit so schwierige Situation aus. Wenn eine Firma in Schwierigkeiten gerät, versucht der Aufsichtsrat die Schuld häufig auf die mangelhafte Ausbildung und Leistung sowie auf die Gehaltsforderungen der Angestellten zu schieben. Doch wissen die Anteilseigner nur zu gut, daß Erfolg und Mißerfolg einer Firma vom Umfang der Investitionen und von einem guten Management abhängt. Wir alle sind bei den Kindern unserer Gesellschaft Anteilseigner, und es ist an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit nicht nur auf das zu richten, was ganz unten in den einzelnen Familien vor sich geht, sondern auch darauf, was ganz oben in der Gesellschaft als Ganzes geschieht.
Seinen Blick nach oben zu richten heißt, auf Politiker und Meinungsmacher in der Regierung, im öffentlichen Dienst und in den gesellschaftlichen Institutionen, in den Medien und in den akademischen Berufen, in den Banken und der Industrie zu blicken. Das bedeutet allerdings nicht, daß man sich in diesem Moment etwas anderes als Eltern und Kinder betrachtet. Die Personen an der Spitze waren allesamt zunächst Kinder, und die meisten von ihnen wurden später Eltern; doch um den Anforderungen ihres Berufs gerecht zu werden, wurden sie darin bestärkt, all das zusammen mit ihren Jeans und ihrem Pullover zu Hause zu lassen und mit ihrer Geschäftskleidung auch die Gleichgültigkeit zu übernehmen. Der Vorwurf, Kindern gegenüber gleichgültig zu sein, wie auch der Hinweis, daß Kinder in der westlichen Welt Schlimmes durchmachen, wird viele von ihnen kränken. Es tut mir leid, sie zu kränken, weil ich sicher bin, daß sich die meisten Menschen auf einer persönlichen Ebene wirklich für Kinder einsetzen und daß nahezu all jene, die aktiv an der Erziehung beteiligt sind, ihr Äußerstes tun, um ihren eigenen Kindern ein gutes Leben zu ermöglichen. Die Kränkung ist jedoch unvermeidlich, und sie muß betroffen machen; denn nur so gelangen wir zu tieferen Schichten der Persönlichkeit. Erst dann können wir anfangen zu verstehen, was falsch gelaufen sein mag, und neu darüber nachdenken, was die richtige Richtung sein könnte.
Auf einer persönlichen Ebene ist die Geburt eines gesunden Kindes in westlichen Gesellschaften genauso wie überall auf der Welt ein Grund zum Feiern, und es geschieht aus denselben Gründen. Das Überleben der Kinder hängt von den Erwachsenen ab; und so hängt auch das Überleben des Menschen als Rasse wie schon immer davon ab, daß es Frauen und Männer gibt, die Kinder wollen und die sich um sie kümmern. Kinder haben wir nicht um ihrer selbst willen, sondern unseretwegen. Mütter und Väter aus vielen Kulturen fassen ihre Gründe für den Kinderwunsch in Worten zusammen, die sich am besten mit "aus Freude und zum Spaß" wiedergeben lassen. Geburt und Gesundheit eines Kindes sind jedoch nicht nur eine individuelle Angelegenheit. Das Neugeborene richtet seine durch und durch blauen Augen auf etwas, was unabhängig ist von Raum und Zeit, von Kultur und ethnischer Zugehörigkeit, was schlicht und einfach menschlich ist; dieses Baby sieht nichts Wesentliches außer dem Gesicht seiner Mutter. Aber seine Eltern oder die Elternfiguren werden lediglich vordergründig etwas mit seinem späteren Lebensstil und seinen Chancen zu tun haben. Was Eltern tun - oder was sie tun können, hängt davon ab, was die Gesellschaft erlaubt, wozu sie ihre Zustimmung gibt und was sie anordnet.
Verglichen mit anderen Zeiten und Gegenden haben es die Neugeborenen und ihre Eltern in den postindustriellen westlichen Gesellschaften gut. Sie sind die Erben einer wissenschaftlichen Beschäftigung mit Geburt und damit zusammenhängenden "Frauenfragen", die bis ins neunzehnte Jahrhundert zurückreicht und uns eine beachtliche und zunehmende Kontrolle darüber verleiht, ob wir Kinder hervorbringen. Eltern können sich für Qualität anstelle von Quantität entscheiden. Wir können die Empfängnis verhüten, ohne unsere sexuelle Aktivität einzuschränken; durch eine Fülle von Verfahren, von der einfachen künstlichen bis zur ausgefeilten Befruchtung im Reagenzglas, können wir günstige Bedingungen für die Empfängnis schaffen. Wir können die Qualität eines Fötus kontrollieren, indem wir diagnostische Verfahren in der Gebärmutter anwenden und indem wir abtreiben - oder sogar chirurgisch etwas verändern -, falls die Entwicklung des Fötus nicht unseren Standards entspricht. Wir können eingreifen, um sicherzustellen, daß eine Frau bei einem gefährlichen Zustand während der Wehen überlebt; wir können eine intensivmedizinische Betreuung wie auch Methoden der Kinderchirurgie einsetzen, um Babys zu retten, die zu einer anderen Zeit und an einem anderen Ort niemals lebensfähig gewesen wären. Babys werden wohlbehalten von Müttern auf die Welt gebracht, deren körperliche und seelische Gesundheit nicht durch zu frühe und wiederholte Schwangerschaften oder durch die Angst vor der Schwangerschaft in Mitleidenschaft gezogen wurde. Und sie haben Väter, die nicht dadurch überlastet sind, daß sie Münder stopfen müssen oder daß sie Angst davor haben, es nicht zu können. Babys in der westlichen Welt haben die besten Ausgangsbedingungen.
Trotzdem ist ein guter Anfang auch nur ein Anfang. Weil die westlichen Gesellschaften sich auf den Beginn des Lebens konzentrieren, verstehen sie sich weit weniger gut auf die späteren Bedürfnisse. Die Grenzen der Medizin als Wissenschaft und der damit zusammenhängenden Technologie erweitern sich ständig, ohne daß damit ein entsprechendes Interesse an den Sozialwissenschaften und den Beziehungen zwischen den Menschen verbunden wäre. Wir wissen viel mehr über die Biologie der Fortpflanzung und darüber, was genetisch vor sich geht, wenn wir Eltern werden, als über die sozialen, emotionalen und psychologischen Einflußfaktoren auf die Elternschaft. Wir geben viel mehr Forschungsmittel dafür aus, körperlich gesunde Babys hervorzubringen, als dafür, emotional stabile Kinder großzuziehen. Während Familienplanung, künstliche Babynahrung und eine Fülle von Hilfen für die Kinderbetreuung die Belastungen durch die herkömmliche Mutterrolle in entscheidender Weise abgebaut haben, hat diese Rolle selbst an Bedeutung verloren, ohe daß an ihre Stelle eine braucbare neue Struktur der Geschlechterrollen und -beziehungen getreten wäre. Was wir jetzt brauchen, kann weder durch weiteren wissenschaftlichen Fortschritt noch durch neue eher technische Bestimmungen automatisch geschaffen wird: eine Neubeurteilung des Stellenwerts der Eltern sowie neue Ansätze zu einer weitergehenden Kinderbetreuung und -erziehung in einer und für eine Gesellschaft im Wandel.
Wir müssen uns selbst daran erinnern, daß Kinder eine intensive, persönliche und lang andauernde Betreuung brauchen. Babys müssen gefüttert, warm gehalten und beschützt werden, und wir sind durchaus dazu in der Lage. Wenn sie jedoch lediglich eine physische Betreuung bekommen, können viele sich nicht entwickeln und einige sterben sogar. Es bereitet nicht einfach nur Freude, eine liebevolle Interaktion mit wenigen vertrauten Personen aufzubauen - es ist geradezu eine notwendige Voraussetzung für gute Gesundheit und gute Entwicklung. Und doch gehen wir eher sparsam damit um. Das Ende der Kleinkindphase verändert zwar das notwendige Engagement der Eltern oder ihrer Stellvertreter, aber es ist damit noch lange nicht überflüssig. Kinder unter sieben Jahren brauchen weiterhin den ständigen Schutz eines Erwachsenen. Neben der Entwicklung moralischer Vorstellungen und des guten Benehmens werden in der mittleren Phase der Kindheit weitere Überlebens- und Lebenstechniken gelernt. Und selbst dann, beim Übergang zur Pubertät, brauchen Kinder noch mindestens fünf weitere Jahre dazu, diese Fähigkeiten auszubilden, Jahre, die durch Körperwachstum und intellektuelle wie auch soziale Reifung gekennzeichnet sind. Die Jugendlichen können dann damit beginnen, die Rolle von Erwachsenen innerhalb des Wertesystems ihrer jeweiligen Kultur einzunehmen. Wie weit auch immer die Eltern und ihre Stellvertreter ihre Aufgabe an andere Betreuer und an Bildungseinrichtungen abgeben: ihr Einsatz während jeder Stufe dieser lang andauernden Kindheit des Menschen ist nicht zuletzt deshalb von entscheidender Bedeutung, weil es die Eltern als Individuen sind, die am leidenschaftlichsten den Bedürfnisse ihrer eigenen Kinder gerecht werden wollen; und unter anderem ist es gerade diese Leidenschaft, die wir besonders dringend brauchen.
In diesen letzten Jahren des 20. Jahrhunderts sind die westlichen Staaten sehr wohl in der Lage, mit Hilfe von Regierungen und Institutionen, von Meinungsmachern und Medien den Eltern zu helfen und sie zu stützen; doch sie leisten weit weniger, als sie könnten. Nie zuvor haben wir uns eines größeren Reichtums und einer größtern Produktivität erfreut, wir besitzen das fortgeschrittenste Gesundheitssystem, ein umfassendes Bildungssystem und ein weit gespanntes Kommunikationnetz. Dies bedeutet, daß wir einen großen Entscheidungs- und Handlungsspielraum haben, und es bedeutet weiterhin, daß wir Informationen zur Hand haben, die uns zeigen, wie wir unsere Spielräume nutzen können. Umfangreiche Forschungsergebnisse deuten darauf hin, daß kinderfreundliche Entscheidungen nicht nur die Situation heutiger Kinder und ihrer Eltern verbessern würden, sondern auch die der Kinder und Eltern von gestern und von morgen. Für jeden einzelnen brächten sie eine Verbesserung der besonders unbefriedigenden Aspekte der westlichen Lebensweise mit sich. Wie lange noch werden wir all diese Befunde nicht zur Kenntnis nehmen, während wir uns gleichzeitig über die "heutigen Eltern" wie auch die "heutigen Kinder" beklagen und uns nostalgisch nach einer unbestimmten Vergangenheit sehnen, als die Familienwerte noch etwas wert waren.
Sollten die gegenwärtig Mächtigen je anerkennen, daß dringend Entscheidungen zugunsten der Kinder gefällt werden müssen, und sollten sie mit den Ergebnissen ihrer eigenen Versäumnisse bei diesen Entscheidungen konfrontiert werden, so werden sie zunächst einmal von ihrem hohen moralischen Podest heruntersteigen und ihre Annahme fallenlassen müssen, daß die heutigen Kinder "es noch nie so gut hatten". Natürlich geht es Kindern in postindustriellen westlichen Gesellschaften im Verhältnis besser als Kindern, die sich zusammen mit ihren Eltern auf den Baumwollplantagen und in den amerikanischen und britischen Fabriken des neunzehnten Jahrhunderts abrackerten, oder denen, die in gerade industrialisierten Ländern in den Ausbeuterbetrieben der großen Städte arbeiten. Selbstverständlich ist die Welt unserer Kinder derartig privilegiert, daß Millionen von Menschen in den Dörfern der Entwicklungsländer nur davon träumen könnten. Und natürlich können wir unseren Umgang mit Kindern als menschlich und respektvoll betrachten, wenn wir sie mit der Art und Weise vergleichen, wie Kinder in einer Orgie "ethnischer Säuberung" durch Osteuropa getrieben oder in Brasilien wie Gesindel erschossen werden. Doch gute Ratschläge im nachhinein und Werturteile, die besagen, daß die Lebensbedingungen für die meisten Kinder hier und jetzt besser sind als anderswo oder zu anderen Zeiten, sind hohles Gerede. Gewiß ist es für jede Gesellschaft moralisch unbedingt erforderlich, angesichts der jeweiligen konkreten Umstände das Bestmögliche als Reaktion zu tun. Es besser zu machen als andere Gesellschaften, die weniger gut dastehen, ist noch lange kein Grund für Selbstgefälligkeit. Die Vergleiche, auf die es ankommt und die mich aufbringen, sind die zwischen dem, wie die Dinge für unsere Kinder stehen, und dem, wie sie stehen könnten. Wenn wir diese Vergleiche anstellen, ziehen wir uns selbst das moralische Podest unter den Füßen weg, denn unsere Gesellschaft könnte so viel mehr für Kinder tun.

Welche der Entwicklungen in der modernen westlichen Welt sind kinderfeindlich?
Wie verzerren diese Entwicklungstrends Politik und Praxis in Bereichen, in denen es um wohlbekannte Bedürfnissen von Eltern und Kindern geht?
Wie könnten wir es in der Praxis besser machen?

Dies sind die drei großen Fragen, die in den drei Teilen des vorliegenden Buch nacheinander angesprochen werden.

© Droemersche Verlagsanstalt Th. Knaur Nachf., München



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